Sebastian Gerstengarbe

Texte

Tiefenlose Ausgeräumtheit
Der Zeichner Sebastian Gerstengarbe

Sebastian Gerstengarbe ist ein reiner Zeichner. Davon gibt es nicht viele. Heute arbeiten Künstler multimedial, grenzüberschreitend, »komplex«. Das hat seinen Grund vor allem darin, dass die Zuständigkeiten zwischen den Gattungen längst aufgehoben sind – die Spezialisten sind dahin, jeder kann alles machen, ob er es kann oder nicht, solange seine Behauptung als zeitgenössische Kunst erfolgreich ist. Königsdisziplinen wie die Malerei im 19. Jahrhundert sind ebenso undenkbar geworden wie eine Rangordnung von Genres oder Sujets, die gleichfalls an ein Medium gebunden waren – man denke nur an die Historienmalerei. Die Kriterien von dem, was Kunst zu repräsentieren habe, lösten sich in der Moderne auf und mit ihnen die grundsätzlichen Vereinbarungen über das, was ein Bild sei, wenn es als Kunstwerk bestehen soll. Damit schwand zugleich die Zuständigkeit von Techniken für bestimmte Aufgaben. Spätestens seit den 1920er Jahren erfolgte eine programmatische Synthetisierung der Medien. Es gab gezeichnete oder gebaute Malerei (Klee, Schwitters, Bauhaus...), neue Ausdrucksbereiche wie die Collage kamen hinzu. Zur endgültigen Auflösung der Gattungen trugen vor allem der Surrealismus und die Negationen der frühen Konzeptkunst à la Duchamp bei. Die Entwicklung mündet in den zentralen Begriff der Autonomie von Werk und Position. Ihr Durchsetzungsaggregat wird das Objekt, als das jetzt auch Malerei oder Zeichnung auftreten können (Pop-Kunst). Die Postmoderne vollendet den historischen Prozess der kategorialen Entlastung: Wer als Künstler was ist oder was tut, spielt für die Bedeutung der Sache so wenig eine Rolle wie die Beurteilung der Kunstfertigkeit. Nicht das Werk, sondern die Zuweisung beglaubigt etwas als Kunst. Deklarieren und Umsetzen müssen dann in keinem Zusammenhang stehen, solange das »Projekt« funktioniert, also kommunizierbar bleibt. Das Werk ist nicht mehr Ziel einer Erarbeitung, sondern Beleg einer Transaktion. Mit Eintreten der technischen Revolution durch die Digitalisierung von Bildwelten in »Neuen Medien« hat das traditionelle Verständnis vom Ensemble der Künste endgültig überlebt: Die zeitgenössische Kunst trägt alles in sich, was Kunst je war, aber in Form von Oberflächen, die beliebig überschrieben oder gespiegelt werden – sie ist voller Reflexe, aber ohne Erinnerung. Die elitäre Separation von ehemals geht in einem ebenso universellen wie tiefenlosen Zeichennetzwerk auf. Seine Knotenpunkte sind Verweise oder Reminiszenzen. Und natürlich folgt daraus nicht Nichts. Im Gegenteil: Wenn alles erlaubt ist, muss auch alles begründet werden. Die Entgrenzung des Bildbegriffs verlangt eine permanente Offenlegung der Voraussetzungen, unter denen ein Werk jetzt entsteht. Anders gesagt: Wenn die Grenzen zwischen den Gattungen aufgehoben sind, gibt derjenige, der sie wieder herstellt, ein Bekenntnis ab. Ein reiner Zeichner ist heute jemand mit einem Sonderkonzept.
Gerstengarbes Statement ist das einer technischen und formalen Askese, die einigermaßen beispiellos sein dürfte. Neuerliche Grenzziehung heißt bei ihm Beschränkung, wenn nicht: Verzicht. Er bedient sich einer einzigen Artikulationsweise, also der Handhabung eines einzigen Werkzeugs – des Bleistifts. Als Zeichner druckt er nicht, er verwendet keine Kreiden, er aquarelliert nicht, er bedenkt seine Formate. Neuerdings erst arbeitet er die gewonnenen Sprachmittel mit dem Pinsel weiter – es entstehen Zeichnungen in monochromer Öltinktur, die das Zarte des Strichs bewahren, aber eine höhere Präsenz der Gesamtstruktur erlauben. Ihre Stille, das Blasse und Zurückgehaltene des Vortrags wirken als Hauptsignale wie gestalterische Entzugsmaßnahmen vor der bunten, lauten Welt da draußen, aus der dieser Zeichner doch seine Motive empfängt. Zum Vorschein kommt ein feines Gespinst von seltsamer Anmut, eine kurztaktige Strichelkultur zwischen planvollem Zaudern und letztem Entschluss. Nur der Punkt, scheinen die Blätter zu sagen, gibt Gewissheit. Die Linie schon ist ein Ausbruch in die Unwägbarkeit. So torkelt sie als eine unsichere, dem Pulsschlag gehorchende Spur über das Blatt und schreibt sich langsam fort, aber nicht, um die Fläche mit Zeichnung zu füllen, sondern um sicherzustellen, was man durch Zeichnen weglassen kann. Die ausgearbeitete Struktur will Transparenz, und sie kommt einem Hauch so nahe, dass man den Eindruck gewinnt, sie wollte eher nicht geworden sein als irgendetwas behaupten. Denn darum geht es bei Gerstengarbe vielleicht überhaupt – um die Frage, was bliebe der unverzichtbare Rest, der eine Zeichnung überhaupt noch ermöglicht?
Mit der Frage nach diesem inneren Kern zeigt dieser Künstler, dass er die Problematik, die seinem frivolen Schaffen anhaftet, sehr wohl sieht. Er gibt überall zu erkennen, dass er sich einem traditionsbeladenen,aber im Ozean der Bildwelten fast unkenntlich gewordenen Medium verschrieben hat. Er weiß, dass derjenige, der dennoch zeichnet, mit rezeptiven Einsprüchen zu rechnen hat, die ihm die Unschuld der freien Verrichtung nehmen und eine Reaktion verlangen: Niemand mehr kann einfach so rum zeichnen vor der Natur nach Maßgabe von Skizze, Studie, Vorwurf und Modell wie vor hundert Jahren noch, um aus dem gewonnenen Material etwas Drittes zu machen. Denn selbst wenn er es versuchte(und manche tun es weiterhin), würde das, was dabei herauskommt, so nicht gelesen werden. Immer würde die Geste, die Anspielung, die Absicht gesucht: Dem Zeichner, der sein Medium nicht reflektiert, wird nicht mehr geglaubt.
Die andere Seite, Zeichnung als voraussetzungsloses Signalement einer erregten Seele, als Chiffre des Unbewussten, als Spur erruptiver Genialität zu vollstrecken, bedeutet die Bewahrung genau jener Unverbindlichkeit, die auch Autonomie genannt wird, über sich hinaus jedoch kaum etwas Verbindliches aussagt. Das ist für einen, der Zeichnung nicht als (gestaltetes) Gefühlsprotokoll anlegt, so wenig eine Option wie die Skriptur einer grafisch aufgehübschten Gedanklichkeit, die als Konzept-Partituren, Vertextungsembleme, als Hybride zwischen ästhetischem Eigenwert und rezeptiver Gebrauchsanweisung sich selbst aufheben. Was aber bleibt, wenn jemand wie Gerstengarbe das Antiquarische der Tradition, aber auch das inszeniert Egomane und erst recht die Publikumserziehung durch Tiefdenken scheut, weil er ein vorsichtiger, also intelligenter Mensch ist?
Er versucht, der Festlegung zu entkommen, indem er mit seinem Stift nach einem Anblick sucht, dessen innere, formale, technische, motivische Hermetik so evident ist, dass der Kontext möglichst zurückgedrängt bleibt. Er offeriert eine Lesbarkeit, die leicht zugänglich scheint, aber voller Abgründe, voller geistiger und formaler Brüche steckt. Als Gegenständlichkeit ringt sie nicht um das genau gefasste Motiv, auch nicht um die Geschicklichkeit, mit der man den Schein von Wirklichkeit erzeugt, sondern darum, das Gesehene in seiner gezeichneten Struktur zu rechtfertigen, die eine Struktur des Verfertigens ist. Mäandernde Strichentfaltungen gerinnen zu Punktierungen oder Schraffuren, zu extrem formulierten Verhältnissen von Leere und Fülle, die das gesamte Blatt in Spannung versetzen, während das, was gesehen werden soll, zugleich durch den sanften Vortrag luzide und irgendwie unberührbar bleibt. Unberührbar auch von zu schnellen Gedanken. Denn die Motive, die man auf einen Blick zu verstehen glaubt, scheinen durch diese Darreichung überall gefährdet. Sie sind herangezoomt, hart angeschnitten, zersetzt oder eingeebnet zu Graustufen, die das Wiedererkennbare erst nach und nach entbergen: Das Gefühl, auf etwas Vorhandenes zu blicken, indem eine Täuschung durch Schattenlinien und Lichtführung herbeigeführt wird, verliert sich alsbald in den flachen Regionen eines gestrichelten Arrangements zwischen Dichte und Ausbreitung. Alles, was man auf einem Blatt wie »Frühe Hirschskizze« zu sehen bekommt, ist in diesem Sinne hergerichtet, um den Schein von etwas aufzugeben: Die Linie am Straßenende führt nicht das Auge spazieren, sie schafft einen gleißenden Vordergrund. Der Zaun zeigt nicht den Zaun, sondern die tiefenlose Ausgeräumtheit von allem, was hinter ihm zu erwarten wäre – Himmel, Staffage, Wiese, irgendwas. Kein Hintergrund, nur Untergrund. Darüber eine metaphysische Leere, die der Betrachter mit projektiven Ergänzungen füllen muss oder als das würdigt, was es ist: als abwesendes Licht, als die Schweigsamkeit des Papiers, als Dehnung des Unberührten. Hat man das wahrgenommen, trägt die Zeichnung eine flächige Ausbreitung von Strichen und Punkten, die letztlich nichts anderes als ein unruhig konturiertes, von oben eingehängtes Bildsystem darstellt. Keine Hervorhebungen, kein Hinlenken auf eine Pointe. Was da ist, verharrt in einem gläsernen Gewordensein, dem für eine Bedeutung, die nicht in der Ansicht selber läge, alles fehlt oder genommen wurde. Die Motive sind nicht mehr Vehikel einer wie auch immer verfremdeten Nachahmung, sondern nur mehr Anlässe für die Stiftbewegung: Der Zeichner zeichnet Zeichnung.
Kunst in Kunst – Bilder im Bild: Das unterstreichen die wiederkehrenden Bezüge auf Abbildungen anderer Werke. Vor allem Bücher (Medien) fungieren als bildgebende Bildgegenstände. Sie sind freilich heruntergebrochen auf eine Ecke mit Rücken, auf den Anschnitt einer Reproduktion. Diese zeigt ein Gemälde als das Stück der früheren Arbeit eines früheren Künstlers im Grau einer jetzigen Reproduktionsreproduktion. Die jedoch gibt vor – bis in die nachgezeichnete Bezeichnung »peinture« – nicht zu sein, was sie ist. Denn auch wenn der Verweis auf eine Vorlage à la Dürer erfolgt, zeichnet Gerstengarbe den Dürer nicht, sondern er drückt ihn gewissermaßen über sein Bleistiftpunktsystem in einen Gerstengarbe durch. Statt eines Abbildes sieht man die Monumentalisierung eines Bilddetails, das eine rabiate Nahsicht erleidet, weil es wie ein Makro in der Fotografie die Konsequenz einer harten Ausblendung zu tragen hat. Varianten zu diesem Bild-Bild-Geschehen geben die sozusagen abgeschriebenen Zeitungen oder, schlimmer: »Illustrierten« oder die gekritzelten Laptops, auf deren Schirm das digitale Ereignis von jener anachronistischen Hand, auf die hier alles zurückgeht, »gezeichnet«, verletzt, geadelt, heruntergemacht, übertragen oder weginterpretiert wird.
Und auch die Hand selbst wird immer wieder gezeigt. Sie ist für diese Idee von Zeichnung nicht nur das Werkzeug der Verrichtung, sondern als Motiv auch ein Gattungssignet: die Hand der Hand-Zeichnung. Auf »Maisbrand« sind es sogar zwei Hände, aber jeweils die Linke, wie bei einer Doppelbelichtung, als ob das Vorweisen des einen Blickfangs nicht genügt hätte. Der bloße Gedanke an »Doppelbelichtung« weist auf die erweiterte Dimension hin: Das Blatt bleibt nicht mehr allein Träger einer artifiziellen Handlung, es wird als Blickfläche definiert, in die etwas hineingereicht wird, als handelte es sich um das Aggregat einer anderen Sichtbarkeit – einen Bildschirm oder um eine Linse oder Lupe. Auf diese Weise spielt Gerstengarbe mit dem Begriff der Zeichnung so gut wie mit dem des Bildes und bezieht dabei die visuellen Möglichkeiten der neuen Medien in das alte Medium ein. Seherfahrungen, die der Zeichnung als gereinigter Anschauung nicht angehören, werden aus der anders selektierenden Technik der Apparate übertragen: Wenn die zeichnende Hand die Hand zeichnet, die zeichnet, was der Betrachter als Zeichnung besieht, dann wird ein linearer Handlungsverlauf suggeriert, auf den es im Film unbedingt ankommt, in Zeichnung aber unbedingt nicht.
Durch diese Zeichen der Verursachung wird immer der Standort klargemacht, den das Auge einzunehmen hat gegenüber dem, was dem Auge geboten wird: Das Nahegerückte verlangt Distanz. Dann spielt es kaum noch eine Rolle, was im Einzelnen erzählt wird. Man begegnet einem raumlosen und entkörperten Material, das es in keiner anderen Wirklichkeit gibt. Alles, was dargestellt ist, ist nicht aus einem Anblick gewonnen, sondern aus dem Denken gedacht – ein System der grafischen Attributierung, das unterschiedlichen Figuren gilt. Fast immer sind das Motive aus der nächsten Umgebung, Bereiche des privaten Umfeldes, eine Zimmerecke, ein Tisch, ein Sessel, eine Wand, aber im Hinkritzeln intim, eine Selbstbegegnung, die sich stillgestellt und stilllebenhaft in einer fremden Ordnung wiederfindet. Entschleunigung ist hier eine Technik der freudvollen Ausmerzung oder des bedachtsamen Werdens auf der Basis des Verzichts – ohne gut gemeinte Kulturkritik wirken diese Blätter dadurch wie Einwürfe gegen die Betriebsamkeit unserer Lebensräume, die Lebensräume der Produktion und Vermittlung von Kunst eingeschlossen. Das Unaufgedrückte des Vortrags hält alles auf Abstand. Nur den Betrachter nicht. Er muss sich versenken und braucht Zeit, um den Bleistift zwischen Feinsinn und Gewitztheit seinen Punkt machen zu sehen.
Michael Freitag